von Juli Zeh

Gezeitenwechsel

Was ist denn: Was? Ist es die Stille, jedes Geräusch fremdartig gedämpft, als säße ich in einem Käfig aus Eierkartons? Ist es die Weite vor dem Fenster: Bis wo die Erde buckelt nur Wind und Wiesen und ringsum das Meer? Oder die Hitze in dieser Hütte, wo ein Gasofen allein gegen den Wind kämpft, der sich von draußen gegen dünne Holzwände lehnt? Woran es auch liegen mag – die Ruhe, die ich jagte, ließ sich nicht einholen. Die Verfolger, die ich abzuschütteln glaubte, brachte ich selber mit, festgekrallt an den Unterboden meiner Erinnerung. So wird man unfreiwillig zum Gedankenschlepper und schmuggelt die Pest bösartigen Kopfzerbrechens übers Meer, auf eine Insel, auf der man weit weg sein wollte, weit weg von überall.

Geflohen bin ich, den Traum zu retten, noch ein paar Tage, vielleicht eine Woche: Alles ist mein, solange kein Wort, kein Blick und kein entzückendes Achselzucken mir wiedersprechen kann. Vor meinen Augen gehört dein Gesicht mir: Ich kann es lächeln lassen, zu mir aufsehen lassen, und wenn der Kopf davon berichtet, wie ich mich selbst betrüge, höre ich seinen Worten nicht zu.

Am Telephon erfuhr ich, du hast die Stadt verlassen, wie ich. Ich gönne mir die Freude: Mein Verschwinden ist Anlass, du hast die Leere nicht ertragen ohne mich in der Stadt. Ich weiß es ja, es ist nicht wahr, du besuchst Freunde, meine Ex-Frau oder deine Mutter, was dasselbe ist, so wie du alles tust aus einem Grund, der offensichtlich ist. Von wem du das hast! Wie anders du bist und nicht wie ich. Du bist so: Einfach, im Denken, so: Klar.

Ich hab dir geschrieben gestern, an meine eigene Adresse, und ich hoffe bloß, der Brief wird dir nicht in die Hände fallen, wenn du mal vorbeischaust in jenen verwahrlosten Hallen, die einst dein Zuhause waren. Nicht wahr, du gehst nicht und findest den Brief? Und auch diesen nicht und nicht den nächsten? Das sind die Schriften eines Verrückten, sie gehören ungelesen vom Erdboden getilgt. Man würde mich einsperren, weißt du, wenn das jemand läse, einsperren, verstehst du mich?

Dabei warst du doch glücklich bei mir? Sicher warst du – du warst sicher, vor allem vor mir. Du hättest bleiben können, so lange du nur wolltest, nur die Zeit musste dich arm machen, und allein, und lebendig – davor warst du mein, und nichts daran eine Schande.

Ich bewege deine Gestalt vor meinen Augen – wie gefällt dir das?- Das gehört mir: Die Erinnerung, da tanzen wir miteinander, du siehst mich an and lachst so – stolz: Dass ich so mit dir tanzen kann, hättest du nicht gedacht, und ich erniedrige mich weit genug, mir deine Blicke zum Glück gereichen zu lassen, für ein paar Minuten. Das gehört mir.

Noch mehr Glück zum Auffrischen füllt das Gefrierfach meines Gemüts, soll ich mich schämen? Es ist so wenig und so kümmerlich erschlichen: Zufälle aus der Dose, Halblüge, Viertelwahrheit, wie schön, dass es mir nicht die Augen zu Schlitzen verengt:

Es ist kein Bett mehr frei, seit Neuestem habe ich gern Besuch, das Haus mal wieder voller Leute, immerhin bist du gern mit von der Partie, meine klugen Freunde, wie gut sie dich aufnehmen, wie groß sie dich machen – das Haus voller Leute, aber die Matratze in meinem Zimmer ist glücklicherweise breit genug. Du weißt, ich schlafe nur bei offenem Fenster, danach mußt du dich richten, du bist jetzt Gast und nicht mehr Königin. Zu Gast! Nachdem du gingst und nichts mehr an seinem Platz ist zwischen den Wänden, an denen sich einst dein Lachen brach. Es ist kalt im Raum, und zufällig sind alle Ersatzdecken in der Wäsche, die Hunde haben sie beschmutzt: Du hast jetzt auch einen Hund, ganz wie ich und meinem Rollo nicht unähnlich, ein Hundemädchen, wie konntest du es >Apfel< nennen: Ich hätte einen griechischen Namen gewußt! - - Apfel könnte Rollos Freundin werden, sie könnten als Stellvertreter, was wir nicht...Es widert mich: eine Hundehochzeit. Bleiben wir bei dem Wunsch, dass die beiden Tiere sich gut verstehen mögen.

Es macht dir nichts aus, das Lager mit mir zu teilen und auch die Bettdecke und das Kissen: Warum? muss es unbedingt Gleichgültigkeit sein, die dich so ruhig neben mir niedersinken lässt, kaum bekleidet, halbnackt – natürlich kann man nicht weiterdenken.

Und es ist schön, wie ruhig du bist, wie du den Kopf in mein Kissen wühlst, das ich dir gerne überlasse, noch ein paar Worte, undeutlich vor Schläfrigkeit:

Was glaubst du wie groß wird der Apfelhund?

Sehr groß, sage ich, und du lächelst glücklich, halb im Schlaf, und ich schwanke neben dir und zwinge mich, ruhig zu atmen, und hoffe, du spürst mein Herz nicht: Es ist schnell und wird mich nicht schlafen lassen. Da liege ich, und deine Ruhe entzückt mich wie sie mich kränkt.

Ich verdränge den Wunsch, nicht der zu sein, dem du vertraust, den Grund nicht zu kennen, aus dem du mir traust – woran soll ich denn sehen, dass mein Blut in deinen Adern rennt? Vielleicht stimmt es ja nicht. Vielleicht ist alles anders, immer. Deine Mutter war ein Leichtfuß, dafür habe ich sie geliebt und gehasst. – Ich vergesse, warte, bis du eingeschlafen bist, und schiebe den Arm über deinen Leib.

Wie ruhig du bist. Ich fasse dich fester. Spiele mit der anderen Hand in deinem Haar. Ich bin doch sterblich, und nehme also, wenn ich eins nicht kriege, ganz einfach etwas anderes. Ich lege mich so, dass dein Atem von selbst meinen Mund berührt, und das ich deine Lippen sehen kann, wenn ich die Augen öffne.

Die erste Stunde verstreicht, indem ich mir ausmale, du wärest wach wie ich und horchtest wie ich, meine Nähe, und nicht etwa ein Traum!, beschleunigte dir die Luft, - und mein Arm wird lahm, weil ich ihn so halte, dass er nicht zu schwer wiegt auf dir.

So vergeht die erste Stunde, und wenn ich genug davon habe, fange ich leise zu sprechen an, bestimmt kannst du mich hören: Morgen wirst du nichts wissen, aber mein Herz kennen, irgendwo. So vergeht die zweite Stunde.

In der dritten Stunde wende ich mich ab von dir und weine: Du hast dich im Schlaf gedreht, mir den Leib entzogen und den Rücken gekehrt.
In der vierten Stunde decke ich dich zu, stopfe das Bettzeug fest von allen Seiten, erhebe mich und gehe durchs Zimmer. Deine Kleider, deine Unterlagen und Bücher liegen verstreut, GOTT WIE FRÜHER räume ich dir nach und du merkst es nicht einmal, wie viele Gegenstände du gebracht hast, Stück für Stück in den letzten Wochen, während deine Besuche immer häufiger wurden: Fast täglich, du wohnst beinahe wieder hier und merkst nicht, wie ich dich zum Trinken anhalte an den Abenden:

Soll ich dich nach Hause bringen?

Du gähnst, kopfschüttelst: Du bist so müde und willst ins Bett, alle anderen schlafen ja auch hier, was soll´s. - -Du merkst nicht, was sich wiederholt:

Dusch doch bei mir!, denn ich weiß, in deiner Wohnung gibt es nur kaltes Wasser.

Iss doch bei mir!, denn ich weiß, dein Kühlschrank ist leer.

Arbeite bei mir!, denn hier ist ein großer Schreibtisch, ich bin gut ausgestattet, und du schleppst deine Sachen herein, Stück für Stück und ganz aus Versehen, nachdem du sie damals hinausgetragen hast, um mit ihnen allein zu leben, und jetzt bist du wieder da, was keiner merkt: Du nicht, ich nicht, meine Freunde nicht – die finden alle ihr Bett – das kann ich mir leisten! Lauter laute Leute, wer nicht mehr jung ist, benimmt sich wenigstens so, und ich weiß, dass du mich bewunderst für diese Gesellschaft: KÜNSTLER! Hier sind sie und verbreiten interessante Luft. Hier lacht man über alles, klug genug, es zu begreifen, hier wird gefeiert, was man verachtet, und du sitzt dazwischen und lachst und staunst und verstehst nichts und bist so stolz. Keiner begreift: Du nicht, warum sie dir nicht weh tun können, und sie nicht, für wen sie tanzen.

Ich steige über deine Sachen in der vierten Stunde und mache kein Licht. Wie eine große Hand hat deine Unordnung Besitz von meinem Zimmer ergriffen, ich möchte mich hinknien, ich werde aufräumen und eingliedern, deine Sachen zwischen meine, morgen, wenn du das Zimmer verlassen hast, und du wirst kommen, sie wieder herausziehen und um dich – und: um mich! – herum verstreuen.

Im Flur hängt ein Bild gerahmt an der Wand, nicht erst seit heute, du hast es gemalt. Hinter einer der Türen höre ich den Dichter schnarchen. Die Küche ein Schlachtfeld, ich suche nach Milch und Honig und Whisky. Eine der Zigarettenschachteln im überfüllten Kübel ist noch halbvoll. Das Fensterbrett über der Heizung war schon immer der beste Platz für einen scharfen oder heißen Schluck und ein paar Lungenzüge.

Danach kann ich schlafen, vielleicht, ich rechne nicht mehr die Anzahl der Stunden aus, die mir Erholung bringen in den Nächten. Gesundheit, Arbeit: Ich weiß, die leiden. Seit Wochen lebe ich wie ein Süchtiger, wie ein Student, ein Geistesgestörter.

Als ich zurückkomme, stehe ich über dir, sehe auf dich hinunter, ein bisschen Verachtung gelingt: Deine Unschuld, dein Unwissen, deine Unbekümmertheit, du bist zu jung, noch dazu in der Ausbildung, nicht einmal eigenes Geld vom Staat, was an meiner Gehaltsklasse liegt – fast gelingt es: Dann habe ich doch wieder die Nase an deiner Schulter, du könntest – im Schlaf – nach mir greifen? Mich umfassen und an dich ziehen, wie es der Schläfer tun darf ohne Sicht: Mich für jemand anderen halten, vielleicht?...? – Nein? – Gut.

Und hier draußen soll ich mich fragen, ob ich ein Recht habe, und was die Vergangenheit bringt, und woran mich die Zukunft erinnert? Fragt mich das Meer? Fragt mich die Insel? Ach was! Ich male mir aus, es ginge immer so weiter: Wie die letzten Wochen, es ist doch gleich! Was soll ich dir sagen, du bist so leicht, es darf und kann nicht sein und ist also auch nicht. Du kommst zu mir, mit meinen Freunden das Schicksal besaufen, duschen, dich mir ausliefern – hab ich denn WENIGER Recht dich zu zerstören, und nicht MEHR als jeder andere? Bin ich nicht immer mehr, und du zu blauäugig, um es zu erkennen? Wir werden uns wiedersehen. Ich werde abgenommen haben, vom Inselleben, und wir werden zusammen tanzen gehen. Deine Freunde werden mich um dich beneiden. Deine Freundinnen werden die Sprüche nicht wagen, die ihnen auf den Zungen liegen.