Das Entscheidende an einer Insel ist das Wasser drumherum.
So lautete meine Erkenntnis, als ich das erste Mal in meinem Leben eine Insel betrat. Ich bin - geht man von meinen biographischen Daten aus - das, was man gemeinhin eine Landratte nennt. Ich bin mitten auf dem Kontinent geboren, in einem Land, das an allen Seiten von noch mehr Land umschlossen ist. Das ist, nebenbei bemerkt, auch eines der großen Traumata meines Volkes: wir haben kein Meer und andere stehende Gewässer auch nur in Maßen. Und ein Land ohne große Wasser hat selten bedeutende Inseln. Deswegen waren auch meine Inselerfahrungen lange Zeit eher übertragener Natur.
Da war einmal die historisch geprägte kollektive Erfahrung eines Landvolkes, wonach eine Insel, und sei sie noch so mickrig, und befände sie sich auch mitten auf dem Kontinent, stets ihrem Topos treu bleibt: sie ist ein (H)Ort der Sicherheit. Es gab, und nicht nur einmal, Perioden in unserer Geschichte, da war das halbe Land auf der Flucht, d.h. hielt sich auf kleinen Bulten inmitten miasmatischer Sümpfe versteckt, in Gesellschaft wenig gastfreundlicher Reiher, Ratten und Myriaden von Mücken. Besonders erhaben war das nicht (siehe: entscheidend bei einer Insel ist das Wasser drumherum; hier war es die stinkende Brake), dafür aber sicher. Wenn die Welt um einen herum aus den Fugen gerät, wird man "reif für die Insel", wird die Isolation zur Rettung.
Ebenso prägend war aber auch das Gegenbild: die Insel als der gefährdete Ort. Ein reich blühendes Eiland, an dem ein müder Seefahrer wie der ruhelose Sindbad einer war, erleichtert anlegen kann, um dann gerademal mit dem Leben davonzukommen, als sich herausstellt, die Insulaner haben statt auf Felsen auf einen äußerst unsteten Walrücken gebaut. Der feste Boden unter den Füßen ist eine unendlich endliche Angelegenheit - kein anderes Bild macht das deutlicher als das einer Insel.
Diese ihre Janusköpfigkeit machte Inseln in meinen Augen zu dekadenten, metaphysischen Orten. Eine Insel ist stets "außerhalb", ist nicht Teil des trockenen Landes, aber auch nicht des Wassers, sie ist, was sie ist, im Endeffekt auf sich selbst gestellt, ihre eigene Ordnung, ihr eigenes "Innerhalb". Als das eigenbrödlerische, eigensinnige Kind, das ich war, fühlte ich mich ihr ähnlich.
Meine ersten konkreten Erfahrungen sammelte ich dann allerdings erst als Erwachsene. Ich war 18, als ich das erste Mal ein Meer sah und 20, als ich schließlich meine erste Insel betrat (es war nicht Sylt, ich war noch nie auf Sylt - das ist es, was mir "spontan" zu Sylt einfällt: ich war noch nie da). Ich kletterte sofort auf den höchsten Punkt, um von dort aus "das Ganze" überblicken zu können. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, und fast immer war ein Ufer zu sehen und jenseits dessen: Wasser. Ozean. Dies erfüllte mich mit großer Genugtuung. Landratte hin oder her, ich hatte immer eine besonders enge Beziehung zu Wasser: die Welt, das war für mich der unendliche Ozean, eine große und ruhige Macht, auf der die ahnungslosen und vor allem endlichen Kontinente dahintreiben.
Nun endlich sah ich es mit eigenen Augen: die Erde hatte Ränder, irgendwo war der Staub, der Fels, der Sumpf zu Ende, und das Wasser, mein Element, übernahm die Herrschaft. Wohin ich auf dieser Insel dann auch ging, stets war die Gegenwart des Wassers zu spüren. (Hören, riechen, schmecken.)
Das entscheidende an einer Insel, stellte ich fest, ist das Wasser drumherum. Und da ich auf Booten seekrank werde, kann ich meinem Element niemals näher sein als auf einer Insel. Eine Insel ist - wie ein Ehemann -: eine schöne Sache.